EURO 1996: Als ich nicht jubeln durfte

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Zweiter Teil unserer Autoren-Serie zur anstehenden EM: Eines der größten Spiele der deutsch-englischen Länderspielhistorie musste unser Autor Björn Leffler mit einem Jubelverbot durchleiden. Ein Martyrium sondergleichen.

Zum ersten Teil gelangt Ihr hier.

Die Europameisterschaft 1996 ist definitiv meine schönste EM-Erinnerung. Nicht nur, weil Deutschland am Ende den Titel gewann. Sondern vor allem, weil sie für mich Fußball pur in einer bis dahin nie dagewesenen Form bedeutete. Die EM fiel glücklicherweise vollständig in die Sommerferien, und die verbrachte ich, dreizehnjährig, bei meinen Großeltern, auf ihrem Bauernhof in der Niederlausitz.

Und wenn Fußball im TV lief, dann war da niemand, den das irgendwie störte. Meine Großeltern hatten tagsüber eine Menge zu schuften auf dem Hof, und wenn abends mein Opa mit in der kleinen Wohnstube saß, lief auch Fußball, da er ein ebenso enthusiastischer Fußballfan war und im Übrigen bis heute ist. Und meine Oma mischte sich in das Fernsehprogramm eigentlich nie weiter ein, es sei denn wir schauten das „A-Team“ in Dauerschleife, dann konnte es schon mal ungemütlich werden.

Das hieß also: Ich konnte drei Wochen lang jedes einzelne Spiel der EM schauen, jedes. Und ich sah jedes Spiel, wirklich jedes einzelne. Es war der Himmel auf Erden, denn nur zehn Schritte entfernt war der zentral in der  Dorfmitte gelegene Fußballplatz, den ich dann in den Spielpausen entweder allein oder mit meinen Cousins beackerte.

Ich konnte also Fußball schauen, bis mir die Augen viereckig wurden, und spielen, bis die Zehnägel blau waren. Beides war am Ende dieser drei großartigen Wochen der Fall.

Wie es der Fußballgott wollte, erreichte Deutschland sogar das Halbfinale, was meiner Hochstimmung verständlicherweise äußerst zuträglich war. Am Morgen des Halbfinals gegen England hatte ich dann aber erstmals richtig Muffensausen. Das Spiel würden wir am Abend alle gemeinsam in der kleinen Wohnstube meiner Großeltern sehen. Mein Opa, meine beiden Cousins und ich. Am Nachmittag nam mich mein Großvater dann aber kurz zur Seite und sagte: „Pass auf, der Oma geht’s nicht so gut, die ist krank. Die muss sich ausruhen und schlafen. Das heißt, heute Abend wird nicht geschrien.“

Mein Opa, der sonst alles andere als autoritär war, sagte mir das mit einer mir sehr unvertrauten, ernsten Stimme. Die Ansage war klar. England gegen Deutschland in Wembley, im Halbfinale der Europameisterschaft. Und es wird nicht geschrien. Was für eine Aufgabe. Nun muss ich dazu sagen, dass ich beim Fußballschauen zu den größten und lautesten Schreiern überhaupt gehöre, und das war vermutlich auch 1996 schon so.

Als das Spiel am Abend des 26. Juni in London um 19:30 Uhr Ortszeit begann, saß ich, frisch gebadet, im Schlafanzug, auf dem Sofa direkt vor dem kleinen Röhrenfernseher, unter einer Decke. Die Engländer gingen schon in der 3. Minute durch Alan Shearer mit 1:0 in Führung, so dass uns dämmerte, dass es heute vermutlich gar nichts zu jubeln gäbe. Als dann aber Stefan Kuntz in der 16. Minute zum Ausgleich einnetzte, vergrub ich mich erstmals unter der braunen Wolldecke und schlug mit meiner Hand stakkatoartig auf die Couch ein. Aber ansonsten kein Mucks.

Das Spiel wog hin und her, und als es dann in die Verlängerung ging, die noch heute zu den dramatischsten Verlängerungen der Europameisterschaftsgeschichte zählt – in Zeiten des Golden Goal hätte jeder Treffer das sofortige Spielende bedeutet – wurde die Auflage, nicht schreien zu dürfen, zu einer unmöglichen Herausforderung.

Als Kuntz nach einer Ecke per Kopf zum vermeintlichen 2:1 traf, presste es sich kurz aus mir heraus, aber urplötzlich traf mich der strafende Blick meines Großvaters, und die Millisekunde, in der ein Schrei zu vernehmen war, verstrich ungestraft. Das Tor zählte aus bis heute nicht erfindlichen Gründen aber nicht.

Damit ging das Drama erst richtig los, erst traf Gascoigne den Pfosten, wenig später verpasste er das 2:1 knapp, als er einen Meter vor dem Tor an einer Hereingabe vorbeirutschte. Auf der andere Seite prüfte Möller Seaman mit einem Fernschuss, und wenige Minuten nach dem Seitenwechsel stand Christian Ziege allein vor dem Tor der Engländer, schob den Ball aber rechts vorbei.

Elfmeterschießen also. Und ja nicht schreien! Ich presste mein Gesicht so fest in die Decke, so dass nur meine Augen noch oben Freiraum hatten und ich fast keine Luft mehr bekam. Aber ich war ganz froh, irgendwas musste ich festhalten und zusammendrücken können, wie bei einer schweren OP, bei der man ein Beißholz zwischen die Zähne geschoben bekommt, damit man es aushält.

 

Es war ein Elfmeterschießen, bei dem die Schützen auf beiden Seiten so beeindruckend sicher schossen, dass die Keeper Köpke und Seaman nicht einen der ersten 10 Elfmeter halten konnten. Als Köpke den sechsten Versuch, den Elfmeter des Unglücksraben Gareth Southgate, parieren konnte, erdrosselte ich mich mit der Decke beinahe selbst.

Und nun Möller noch, der für das Finale gelbgesperrte Möller. Der so oft verschmähte, er stand scheinbar seelenruhig am Elfmeterpunkt und wartete auf den Moment der Ausführung. Die Decke war mittlerweile nicht nur zerfurcht, sie war geradezu ein Flickenteppich. Möller jagte das Leder hart und humorlos unter die Latte, und Rubenbauer brüllte: „Deutschland im Finale!“ Ich konnte nicht mehr. Ich sprang auf, war von Sinnen, und ich schrie flüsternd, mit gepresster Stimme, kurz vor dem Delirium: „Wir haben gewonnen! Wir haben gewonnen!“ Und immer wieder: „Wir haben gewonnen!“

Meiner Oma ging es am nächsten Morgen glücklicherweise wieder besser, es hatte sich also ausgezahlt. Nun also Finale, gegen die starken Tschechen. Am Morgen des Endspiels – ich schlief auf dem Sofa, auf dem ich tagsüber und abends auch die Spiele schaute – lag ich in der Wohnstube und spürte wieder das große Muffensausen, das in mir hochstieg. Da kam mein Opa herein und sagte: „Tschechien ist Europameister.“ Ich sah ihn fragend an. Er fuhr fort. „Deutschland hatte beim Halbfinale gegen England während eines Wechsels für 30 Sekunden zwölf Spieler auf dem Platz. Die Mannschaft ist nachträglich disqualifiziert worden. Und Tschechien ist Europameister, kampflos.“

In der Sekunde, als ich mein Gesicht in meinen Händen verbrub, fügte er an: „…hab ich geträumt!“ Er tätschelte mir lachend das Haupthaar und ging heraus, um sein Tagwerk zu verrichten. Mein Opa, der Fuchs. Aber es hatte im ersten Moment irgendwie einleuchtend geklungen.

Jeder weiß, dass es nicht so kam. Am Finalabend durfte übrigens wieder geschrien werden, und die kleine Stube war noch voller, Onkels und Tanten, Eltern und noch mehr Cousins waren da. Und nachdem Oliver Bierhoff das 2:1 in der Verlängerung erzielt hatte, sprang ich in meinem Pyjama auf und ab und schrie wie von Sinnen: „Europameister, Europameister!“

Dieses mal nicht mit gepresster, flüsternder Stimme, sondern aus vollem Hals.

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