Mein Wunder von Bern

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Dorfidyll

Vom „Wunder von Bern“ habe ich nicht aus dem Fernsehen erfahren, sondern in einer kleinen Küche im Spreewald. Es war die spannendste Fußballgeschichte meines Lebens.

von Björn Leffler

Vom sogenannten „Wunder von Bern“ habe ich nicht aus dem Fernsehen erfahren. Es war nicht Guido Knopp oder irgendein Kinofilm, oder gar ein Musical, der bzw. das mir dieses bedeutende, legendenumrankte, überladene Ereignis der deutschen Nachkriegsgeschichte näher gebracht hat. Die verwackelten schwarz-weiß-Bilder und Herbert Zimmermanns röhrenden Original-Kommentar – der ja eigentlich nicht der Fernseh-, sonder der Radioreporter war – habe ich erst danach kennengelernt.

Vom „Wunder von Bern“ habe ich anders erfahren, und er nannte es auch nicht das „Wunder von Bern“. Er nannte es immer nur das „Finale gegen die Ungarn“. Er, das war mein Großvater. Und ich, damals elf Jahre alt, fing gerade an, mich für Fußball zu interessieren. Meine Großeltern lebten auf einem Bauernhof 100 Kilometer südlich von Berlin, in der Nähe der Kleinstadt Luckau, und in den Ferien war ich sehr häufig dort. In der Mitte des kleinen Dorfes befand sich ein kleiner Rasenplatz, der mit zwei verwitterten Toren bestückt war. Normalerweise verbrachte ich den ganzen Tag dort, allein oder mit einigen Jungs Fußball spielend. Ich unterbrach das Kicken nur äußerst ungern, aber die Nahrungsaufnahme war hin und wieder ein überzeugender Grund.

An irgend einem sommerlichen Spätnachmittag saß ich mit ihm in der kleinen Küche, wir aßen gemeinsam Abendbrot. Er ließ einen sensationellen Rülpser los, was ich natürlich wahnsinnig ulkig fand. Er musste selbst lachen. Er stammte eben aus einer Bauernfamilie, da waren die Sitten mitunter rau. Aber dennoch war mein Großvater ein reflektierter, intelligenter Mann. Ich erinnerte mich an diesem Abend, wie mein Vater am Tag davor mit ihm in einem Gespräch erwähnt hatte, dass mein Vater einmal Streit mit seinem damaligen Schwiegervater bekommen hatte, weil dieser es nicht verstehen konnte, dass mein Vater in einem WM-Finale der westdeutschen Mannschaft die Daumen drückte – wo sie doch nunmal in der DDR lebten.

Also entsponn sich recht beiläufig ein Gespräch darüber, als ich meinen Großvater fragte, welcher Mannschaft er denn in der DDR die Daumen gedrückt habe, der westdeutschen oder der ostdeutschen. „Ich habe immer beiden Mannschaften die Daumen gedrückt. Für mich waren es immer Deutsche, egal auf welcher Seite. Das war schon ’54 so.“

54, das wollte ich natürlich genauer wissen. Was denn ’54 gewesen sei, fragte ich. Und ich sah, wie sich auf dem sonnengegerbten, gütigen Gesicht meines Großvaters ein Gesichtsausdruck breit machte, der so viel Glück und Zufriedenheit ausstrahlte, wie ich es selten bei ihm gesehen hatte. Mein Opa war ein absolut sportbegeisterter Mensch, das wusste ich schon von meiner Mutter. Die ganze Familie war nachts aufgestanden, um die Kämpfe von Muhammad Ali live zu sehen. Olympische Spiele gehörten zum regelmäßigen TV-Programm. Und einmal, als das Fernsehbild ausgefallen war, soll mein Opa vor dem Fernseher gehockt und nur noch gelauscht haben. Niemand durfte ihn stören, der Sport war ihm heilig. Und Fußball sowieso, das stand über allem.

Zöllmersdorfer Kirche

Die Dorfkirche von Zöllmersdorf. Direkt angrenzend: Der zentrale Bolzplatz

Mein Großvater saß in seiner kleinen Küche, bestrich eine Scheibe  Brot mit etwas Butter und erzählte mir von der Weltmeisterschaft 1954. Er erzählte mir alles haargenau. Von der Außenseiter-Rolle der deutschen Mannschaft, der 3:8-Niederlage gegen Ungarn in der Vorrunde, vom Halbfinale gegen Österreich. Er beschrieb mir, wie er die Spiele am Radio verfolgte und sich seine Begeisterung mit jedem Spiel steigerte. Er redete sich geradezu in Rage, vor allem wenn über „die Ungarn“ sprach.

„Die waren unschlagbar. Unschlagbar. Vier Jahre hatten die nicht ein Spiel verloren. Das Finale würden wir haushoch verlieren, das war klar. Es konnte gar nicht anders sein, wir hatten da überhaupt keinen Optimismus!“ Er sprach mit so viel Ehrfurcht von dieser ungarischen Wundermannschaft, dass mir allein vom Zuhören der Angstschweiß ausbrach. Seine Schilderung des Endspiels und des um Fassung ringenden Radioreporters gehören zu den packendsten Nacherzählungen, die ich jemals verfolgt habe. Die Geschichte war mir zudem ja auch völlig neu. Ich saß ihm gegenüber, mit offenen Augen und offenem Mund. Ich hing förmlich an seinen Lippen und war wie gebannt. Die Geschichte meines Großvaters klang wie eine übertriebene Heldengeschichte, und ich vermutete, dass er etwas flunkerte, ein bisschen zu dick auftrug.

Dann beschrieb er die dröhnenden, fanatischen Torschreie des Radioreporters, als Helmut Rahn sensationell zum 3:2 traf und Deutschland zum Weltmeister machte. „Er schrie immer wieder…. Tooor, Tooor, Tooor! Er hörte gar nicht mehr auf!“ Seine Schilderung der letzten Minuten, sie waren so packend, als wäre ich live dabei. Und die Geschichte endete natürlich mit dem großen Happy End, dem Weltmeistertitel für die deutsche Mannschaft.

Auf Jahre hinaus verband ich meinen Großvater nur mit dieser Geschichte, seiner Leidenschaft für den Sport und den Fußball. Mein Großvater war lebensfroh, lustig und verständnisvoll. Erst viele Jahre später erfuhr ich dann, auch von ihm persönlich, die anderen Geschichten seiner Generation. Die Geschichten vor der Zeit der WM 1954. Die Geschichten vom Nationalsozialismus, von Kriegsjahren, von Elend und Leid, von Hunger, von Vergewaltigungen und vom Tod. Jene Dinge, die über die dortige Landbevölkerung hereinbrachen wie über das restliche deutsche Volk auch, vor allem das im russisch besetzten Gebiet. Erst dann begriff ich langsam, dass dieses Sportereignis im Sommer 1954 einen so enormen Stellenwert haben konnte, und zwar auf beiden Seiten der Besatzungszonen. Ein Fakt, der in den heutigen Rückblicken eigentlich kaum Beachtung findet. Aber auch in der sowjetisch besetzten Zone drückte man, nur neun Jahre nach der kriegsbedingten Teilung des Landes, natürlich den deutschen Landsleuten die Daumen.

Ich begriff, warum er mit so viel Begeisterung, mit so viel Hingabe davon erzählt hatte. Es muss wohl das erste wirklich gute und unbelastete, unbefleckte Ereignis der deutschen Geschichte gewesen sein, nachdem das deutsche Volk die halbe Welt in Brand gesteckt hatte und dafür letztlich bitter büßen musste.

Das „Wunder von Bern“ ist für mich also nicht das verklärte Nationalereignis, die „Geburtsstunde der Bundesrepublik“, von dem in den Medien ständig die Rede ist. Für mich ist es die wundervolle, persönliche Erzählung meines Großvaters, der mir an diesem Abend und noch unzählige Male danach vom „Finale gegen die Ungarn“ erzählte. Und erst als ich die Bilder im Fernsehen sah, den bebenden Kommentar des Radioreporters Zimmermann, die Berichte der Zeitzeugen, die Millionen von Menschen auf den Straßen – da realisierte ich, dass mein Opa keinesfalls übertrieben hatte. Es war alles so, wie er es erzählt und dargestellt hatte. Ein fußballerisches Wunder eben. Aber ich sehe nicht die Millionen von Menschen, wenn ich heute daran denke. Ich sehe einen jungen Mann, der an einem kleinen Radio irgendwo in den Niederungen des Spreewaldes kauert und durch den Sieg etwas Auftrieb bekommt im schweren Alltag der Nachkriegsjahre.

Zöllmersdorf

Meine Großeltern leben noch immer auf ihrem Bauernhof in der Niederlausitz, und jedesmal, wenn ich sie besuche, kommen mein Opa und ich nicht umhin, über die aktuellsten Fußballereignisse zu sprechen. Als die deutsche Nationalmannschaft im Halbfinale der WM 2014 gegen Brasilien zur Pause mit 5:0 führte, rief mein Opa mich an. Ich war völlig erstaunt, dass er sein Handy, das er nur für Notfälle dabei hatte, auch wirklich bedienen konnte. Es war der einzige Anruf, den ich darüber jemals von ihm erhalten habe. Er war hin und weg: „5:0 zur Halbzeit! Wie im Halbfinale ’54 gegen Österreich! Du wirst mal sehen…. die werden Weltmeister!“

Er hatte natürlich recht. Das bringt wohl die weitreichende Erfahrung mit sich. Als die deutsche Mannschaft wenige Tage später in Rio den Weltpokal in den Nachthimmel hob, dachte ich zuallererst an ihn. Ich freute mich so sehr, dass er das nochmal erleben konnte. Er selbst sagte wenige Tage später zu mir: „Jetzt, jetzt kann ich sterben.“ Aber nach dem Turnier ist vor dem Turnier, und im Sommer steht die Europameisterschaft 2016 vor der Tür. Die würde mein Opa natürlich noch gern erleben.

Ich drücke ihm alle Daumen und hoffe, dass das Bild nicht ausfällt. Aber auch das würde ihn nicht wirklich stören, das Radio ist immer eine gute Alternative. Er hat ja gute Erfahrungen damit gemacht.

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