Nur ein Spiel?

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Ach, was waren das für Zeiten, als das wichtigste Spiel im eigenen kindlichen Bewusstsein „Mensch ärgere dich nicht“ oder Monopoly war. Es war eine freudige Abwechslung zwischen schelmischer Freude und temporärer Bockigkeit, die einen selbst, die ganze Familie oder den halben Freundeskreis beschäftigte. Meist legte sich jede der empfundenen Emotionen in Bezug auf eines der Spiele innerhalb weniger Minuten. Es war ja nur ein Spiel. Anders stellt sich die Situation am heutigen Morgen nach einem wahrhaft mitreißenden Europapokalabend dar. Wir alle kennen diese Sprüche von fußballfernen Freunden und Familienangehörigen, die angesichts der Trauerklos-Attitüde eines enttäuschten Fußballfans ein aufmunterndes „Es ist doch nur ein Spiel“ raushauen. Nüchtern betrachtet: Klar! Was willste auch dagegen sagen. Aber echt … wie kann es nur ein Spiel sein… angesichts dieser Emotionen, die es freisetzt und die mitnichten mit derer im Kontext von Brettspielen vergleichbar sind.

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Geistige Leere, körperlich ausgebrannt. So ungefähr fühlt sich der sonnige Freitag an diesem 15.04.2016 an. Der moralische Tiefschlag sitzt tief in der Magengegend. Vor etwas mehr als 10 Stunden versenkte Dejan Lovren einen Kopfball im Tor von Roman Weidenfeller. Das Spiel schrieb die 91. Minute. Es war das 4:3 gegen ein spätestens ab diesem Zeitpunkt desillusioniertes Dortmunder Team und die versammelte Anhängerschaft. Der Schrecken, der Schock war tief ins Gesicht geschrieben. Gleichzeitig erlebte Liverpool einen jener großen Momente, die fett in die Geschichtsbücher geschrieben werden und Potential zur Legendenbildung haben. All dies innerhalb eines Stadions, eines Strafraums, eines Moments.

Es gibt zwei Herangehensweisen, um mit der gestrigen Niederlage der Borussia umzugehen. Natürlich sind diese nur stümperhafte psychologische Verarbeitungsstrategien, aber sie helfen, um das Erlebte einzuordnen. Verarbeitungsstrategien eines Gebeutelten:

Zum einen wäre da die fußballeuphorische Position der Unberechenbarkeit des Spiels: ein eigendynamischer von Emotionen, Persönlichkeiten und besonderen Orten getragener Wettkampf, der aus diesen Geschichten seinen Mythos entwickelt. „Football – bloody hell“. In dieser Hinsicht bot das Spiel so gut wie alles, was man sich als Fan dieser Sportart nur wünschen kann. Eine hochgradig leidenschaftliche Fangemeinschaft in einem engen atmosphärischen Stadion, zwei unwiderstehliche agierende Fußballmannschaften, die sich respektvoll behandelten, aber sich auch überhaupt nichts schenkten. Es war ein Spiel mit dem oft titulierten offenen Visier. Liverpool hatte nichts mehr zu verlieren und gewann mit Inbrunst alles. Dortmund entwickelte ab dem 2:3 Verlustängste und verlor die Beständigkeit – ein eindringlicher Moment, wie Fußballspiel im Kopf entschieden werden. Und dennoch hätte Dortmund auch noch den lucky punch setzen können. Der Freistoß von Ilkay Gündogan in der 95. Minute segelte jedoch kanpp am linken Pfosten vorbei. Es war der Schlusspunkt einer dramatischen Partie und der Auftakt für die Vergegenwärtigung einer der großen Momente des Sports. Die Unberechenbarkeit des Spiels hat wieder zugeschlagen und versenkt die jeweilige Anhängerschaft in Trübsal oder Euphorie.

Zum anderen kann man in die taktische Analyse gehen und sich mit den kleineren und größeren Fehlern auseinandersetzen, die dazugeführt haben, dass Dortmund noch eine 3:1-Führung hergegeben hat. Dortmund war bockstark, spielte abgeklärt gegen eine sehr starke Mannschaft des FC Liverpool. Die Chancenverwertung verhalf zu einer beruhigenden Führung. Jedoch: Das Tor von Coutinho zum 2:3 belebte Liverpool vollends wieder. Von nun an gab es nur noch die Devise alles aus dem Spiel rauszupressen, was noch irgendwo versteckt sein mochte. Der Knackpunkt des Spiels in taktischer Hinsicht war aber wohl die Ecke für Liverpool in der 78. Minute. Kurz vor der Ausführung wechselte Tuchel Ginter für Kagawa ein, der für defensive Stabilität sorgen sollte. In solchen Momenten erinnere ich mich einigermaßen ungern an ein Erlebnis in der Berliner Freizeitliga, als unsere Mannschaft während bei einem Eckball des Gegner in freudige Wechselspiele überging. Die Zuordnung ging verloren – natürlich fingen wir uns sofort einen Gegentreffer. Der gegnerische Spieler stand fünf Meter vor unserem Tor vollkommen frei. Gestern war UEFA-Cup-Viertelfinale, und dennoch: die Geschichte ist vergleichbar. Ginter rannte Richtung Strafraum als die Ecke ausgeführt wurde, kam an und irritierte. Der Ball rutschte durch zu Sakho, der nur noch zum Ausgleich einnicken mussten. Das Spiel kippte. Ein weiterer ärgerlicher Punkt, der wohl von einigen in den Bereich ohnmächtiger Fernsehtrainer abgetan wird: Taktisch gesehen verstehe ich die Umstellung des Spielsystems sowieso nur selten. Die Dominanz des Spiels wird eigenmächtig aufgegeben. Vor kurzem erst erlebten wir wie Morata und Cuadrado für Juventus Turin die Bayern in München düpierten, bevor sie zugunsten von Abwehrspielern ausgewechselt wurden. Die Bayern konnten das Spiel noch drehen. Juventus konnte die spielerische Leichtigkeit nicht wiederfinden. Es ist wirklich müßig, darüber zu spekulieren, was wäre wenn zum Beispiel Gündogan für Kagawa etwas früher oder später gekommen wäre. Aber das sind so die Gedanken, die man als Fan mit sich rumträgt.

Zum Glück bleibt einem noch der erste Erklärungsansatz der psychologisch-sportlichen Mythenbildung, woraus der Fußball seine Kraft zieht. In dieser Hinsicht kann man sich einreden, dass solche Erlebnisse dazugehören und man irgendwann darüber auch wieder schmunzeln kann. Liverpool erlebte gestern ungefähr das, was Dortmund vor drei Jahren gegen Malaga erlebte. Heute ist es gut vorstellbar, welche Leere die Spieler und Fans des FC Malaga damals erlebt haben müssen. So ergibt sich die Perspektive des Wechselbades der Gefühle, wo ebensolche Momente dazugehören. Dieser Gedanke baut einigermaßen auf, während der zweite der Taktikanalyse nur Leere erzeugt. Deswegen sollte auf eine kritische Auseinandersetzung mit den taktischen Entscheidungen der Dortmunder wohl verzichtet werden und stattdessen die Situation der sportlichen Wankelmütigkeit anerkannt werden. Liverpool und Dortmund boten großes Kino. Und dennoch: Scheiße Mann, es ist unheimlich bitter. Aber mit welchem Recht dürfte man sich euphorisch an den Erfolgen der eigenen Mannschaft ergötzen, wenn man eine Niederlage nicht auch genauso fühlt? Die Leidenschaft für den Fußball zwingt uns zur totalen emotionalen Öffnung für Freud und Leid, dementsprechend körperlich fühlt sich das „Spiel“ Fußball auch an.

Axel Diehlmann
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