Abpfiff!

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Im Mai werden auf der deutschen und europäischen Fußballbühne, wie in jedem Jahr, wieder entscheidende Abpfiffe ertönen. Einige von ihnen werden richtungsweisend sein, im positiven wie im negativen Sinne. Es sind jene finalen Pfiffe des Unparteiischen, die Spiele beenden und damit Resultate und Tatsachen unumstößlich machen. Pfiffe, mit denen der Verein Hertha BSC bislang sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht hat. In wenigen Wochen ist es wieder soweit.

von Björn Leffler

Der 20. Oktober 1999 war nicht unbedingt einer jener Tage, die sich aufgrund umwerfender Ereignisse ins Gedächtnis der Weltbevölkerung eingebrannt haben. Der 20. Oktober 1999 war – zumindest in Berlin – ein recht kühler Herbstmittwoch, den ganzen Tag über nieselte es leicht.

Der Bundessicherheitsrat beschloss an diesem Tag die Lieferung des Panzertyps Leopard 2 an die Türkei, in Berlin endete die europäische Kindersoldatenkonferenz mit der nicht wirklich überraschenden Ächtung des Einsatzes von Kindersoldaten, in Leipzig wurde die Baufachmesse mit einer Laudatio von Fritz Eichbauer eröffnet, und die Studenten der Freien Universität Berlin ergötzten sich an einem Vortrag des bekannten Kabarettisten Vicco von Bülow alias „Loriot“. Die Ziehung der Lottozahlen brachte die Gewinnkombination 2, 3, 12, 22, 39, 45 hervor. Zusatzzahl war die 4.

Kein Tag also, an dem Geschichte geschrieben worden ist, möchte man meinen. Dennoch wartete die Berliner Boulevardpresse am Morgen dieses 20. Oktobers mit ungewohnten Superlativen auf. Die B.Z. titelte auf Seite 1 ihrer Ausgabe betont zurückhaltend: „Das Spiel des Jahrhunderts!“ Und tatsächlich sollte sich an diesem kühlen Oktoberabend im damals noch nicht überdachten Rund des Berliner Olympiastadions großes tun, denn der AC Mailand war zu Gast. Nicht zum Freundschaftsspiel, sondern zum dritten Vorrundenspiel der Champions League. Dieser Umstand allein machte es aus Sicht der deutschen Hauptstadt, deren einziger Verein im Profifußball drei Jahre zuvor noch durch die zweite Liga gestolpert war, zu einem Jahrhundertspiel.

Am Tag nach dem Spiel jedoch war es allerdings nicht die bloße Anwesenheit von Weltstars wie Andrej Schewtschenko, Leonardo oder Oliver Bierhoff, welche die Schlagzeilen prägten. Am Abend des 20. Oktober 1999 war der Verein Hertha BSC auf die große Bühne des europäischen Fußballs hinausgetreten. Nach dem überzeugenden 1:0-Sieg gegen das italienische Star-Ensemble war der international fast in Vergessenheit geratene Verein aus Berlin schlagartig kein unbekannter Exot mit einem merkwürdigen Vereinsnamen mehr, sondern ein ernstzunehmender Gegner mit einem großen Potential im Rücken.

Als an diesem Abend im Olympiastadion in den letzten Sekunden der Partie die gellenden Pfiffe der Zuschauer auf die hilflos anrennenden Mailänder hinunter donnerten und das bange Warten auf den Schlusspfiff zu einem Warten auf das Unmögliche wurde, stand ich zitternd in der 20. Reihe von Block A und wagte kaum noch, auf das Spielfeld zu schauen in der ständigen Erwartung des plötzlichen Sekundentods, von dem Außenseiterteams so häufig kurz vor Schluss noch ereilt werden, wenn der Favorit die einzige sich bietende Chance eiskalt ausnutzt. Und mir war irgendwie klar, dass die kleine Hertha gegen den gigantischen AC Milan diesen Moment noch würde erleben müssen.

Als jedoch der Schiedsrichter plötzlich wie in Zeitlupe seinen Schritt auf Höhe des Mittelkreises verlangsamte, den linken Arm steil nach oben reckte und zum finalen Pfiff des Abends ansetzte, wurde alle Angst von einer sich hoch auftürmenden Jubelwelle tausender verzückter Stimmen verschluckt. Die Erinnerungen dieser Nacht sind heute, über fünfzehn Jahre später, surreal und ganz und gar nicht herthaesk; die Spieler der Italiener am Boden, ein nicht enden wollender weißblauer Rausch auf den Tribünen des Stadions, meine Eltern und meine Schwester, die ich vor lauter Freude nicht mehr los lassen konnte. Als wenige Minuten nach dem Abpfiff das rührselige „Nur nach Hause geh’n wir nicht“ durch die Arena waberte und ich fassungslos und glücklich auf ein nicht endendes Meer aus Schals und Fahnen blickte, den Chor der 75.000 Zuschauer aufsaugend, schien dies nur der Anfang einer grandiosen Entwicklung zu sein. Hertha, der schlafende Riese. Die Zeit schien gekommen.

Entscheidende Abpfiffe werden für gewöhnlich natürlich nicht an kühlen Oktoberabenden getätigt, sonder meistens an sonnigen Tagen und lauen Abenden im Mai, denn die Saison findet ihren Schluss- und Höhepunkt für gewöhnlich im schönen Wonnemonat. Schließlich lassen sich errungene Meisterschaften, hart erkämpfte Pokalsiege oder vermiedene Abschiede mit den Fans am besten bei strahlendem Sonnenschein feiern, und auch für die Fernsehkameras gibt der Frühsommer dafür einfach die schönsten Bilder her.

Im Frühsommer wird aber nicht nur gefeiert.

Am 21. Mai 2005 war im runderneuerten Berliner Olympiastadion alles für die große Feier bereit. Ein strahlender Sonnentag und die anwesenden 74.500 Zuschauer bildeten einen königlichen Rahmen, um den Einzug in die Königsklasse des europäischen Fußballs, der seit 1999 mehrfach knapp verpasst worden war, gebührend zu feiern. Vor dem Anpfiff hatte die Ostkurve eine aufwendige Choreographie präsentiert, das Konfetti lag schon in den aufgestellten Kanonen, nur ein Sieg gegen mittelmäßige Hannoveraner hätte zum vollkommenen Glück gefehlt, und nach einem großartigen Jahr wäre es der verdiente Lohn für eine mit Ausnahmekönnern gespickte Mannschaft gewesen. Vor dem Anpfiff hielt ich mein selbstgebasteltes Schild „Let’s go Hertha“, mit aufwendig gebasteltem Champions-League-Pokal darauf, in den Nachmittagshimmel.

Als 92 Spielminuten später Schiedsrichter Dr. Helmut Fleischer das Spiel beim Stande von 0:0 abpfiff, war es, als würde ich von einer zentnerschweren Last zu Boden gedrückt werden. Bis zum Abpfiff hatten wir wie erstarrt auf die eine, rettende, erlösende Situation gehofft, die uns das 1:0, die Champions League und damit bitter benötigte Millionen für unseren hoch verschuldeten Verein bringen sollte. Als der humorlose Pfiff die Saison 2004/05 beendete, saß ich noch lange später niedergeschlagen und in mich gekehrt auf der Sitzschale meines Platzes und ahnte, welche Tragweite dieses Scheitern für den Verein haben könnte. Ich zerriss das Schild und ließ es auf den verwaisten Stufen liegen, in der naiven Hoffnung, so auch mein gebrochenes Herz dort zu lassen. Leider nahm ich es mit.

Als am 23. Mai 2009 Referee Michael Weiner das Spiel im Karlsruher Wildparkstadion mit einem sachlichen Pfiff beendete, war dies nicht der Moment des Schmerzes. Es war nur die endgültige Bestätigung eines erneuten, fast schon irrwitzigen Scheiterns. Eine Woche zuvor hatte Hertha im Heimspiel gegen den FC Schalke 04, für das über 250.000 Karten hätten verkauft werden können, mit einem 0:0 in ähnlicher Weise versagt wie vier Jahre zuvor gegen Hannover 96.

Die Jahre des Mittelmaßes, in die der Verein im Anschluss an das Hannover-Spiel gestürzt war, waren durch die sensationelle Spielzeit der Saison 2008/09 unter Trainer Lucien Favre vergessen gemacht worden. Vor dem Spiel hatte eine übermütige Euphorie geherrscht, aber wieder einmal hatte Hertha in einem Millionenspiel die Nerven und zugleich sogar den Kampf um die Deutsche Meisterschaft verloren. Nicht unerwähnt wollen wir das reguläre, nicht gegebene Tor von Marco Pantelic lassen. Eine Woche später dann sollte zumindest die bitter benötigte Qualifikation für die Champions League beim stark abstiegsgefährdeten KSC perfekt gemacht werden.

Nach dem desaströsen 0:4 dort war klar, dass Hertha wieder einmal wichtige Gelder und damit auch wichtige Spieler verlieren würde. Und mir war klar, dass ein erneuter Fall in die Mittelmäßigkeit kaum aufzuhalten war. Als ich im schweigenden Wildpark – der KSC war trotz des Sieges abgestiegen – die letzten Minuten teilnahmslos verfolgte, waren es es düstere Bilder, die ich mir für die Zukunft ausmalte. Es kam dann allerdings alles sehr viel schlimmer.

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Die Hoffnung stirbt zuletzt – Mitfiebern im Block A des Olympiastadions

Als am 1. Mai 2010 Teofanis Gekas ein letztes Mal an einer Hereingabe von der rechten Seite um Zentimeter vorbeigrätschte und das entscheidende 2:1 in Leverkusen damit verpasste, hatte das Versagen zwölf Monate zuvor in Karlsruhe eine noch viel düstere Dimension angenommen. Diese vergebene letzte Chance durch Gekas im Entscheidungsspiel am 33. Spieltag war der Moment, in dem der Abstieg besiegelt wurde. Aber erst der Schlusspfiff durch Peter Sippel, wenige Sekunden später, trieb den Pflock das entscheidende, letzte Stückchen hinein ins Herz. Ein solcher Abpfiff nimmt dem letzten vorhandenen, irrationalen Fünkchen Hoffnung seine Daseinsberechtigung. Keine letzte Flanke mehr in den Strafraum, kein Abpraller, der doch noch einmal eine Chance erzeugt, kein glücklicher Weitschuss. Nichts. Nur noch der Abpfiff.

Die Unumstößlichkeit des Momentes, die bare Gewissheit, das faktische Ende der Partie und für uns der damals nicht mehr abwendbare Gang in die Zweitklassigkeit. Innerlich kaum fähig, zu atmen, ging ich schweigend und versteinert hinaus auf die sonnige Terrasse meiner Eltern, in deren Haus wir das Spiel, den letzten verbleibenden Strohhalm, mit einer Mischung aus Hoffnung und Zwangsoptimismus verfolgt hatten. Mit leerem Kopf sah ich in den klaren Himmel und versuchte, es mit Fassung zu nehmen.

Aber erst in den kommenden Wochen, als im Radio vom „Zweitligisten Hertha BSC“ gesprochen wurde, als Spieler den Verein verließen und Sorgen über das Fortbestehen des Vereins geäußert wurden, flammte der Schmerz unerwartet und plötzlich auf. Der Abstieg aus Liga eins war der vorläufige Schlusspunkt unter eine Entwicklung, die mit dem Aufstieg 1996/97 begonnen und – für mich persönlich – mit dem 1:0-Sieg gegen den AC Mailand ihren strahlenden Höhepunkt gesehen hatte.

Als ich am letzten Spieltag dieser Saison durch die Tränen hindurch der Meisterfeier des FC Bayern im Berliner Olympiastadion – welch bittere Ironie – beiwohnen musste, hätten Angst und Ungewissheit kaum größer sein können. Gleichzeitig wusste ich aber auch, dass die Tiefpunkte, die mich durch das Mitfiebern und Mitleiden mit meinem Verein Hertha BSC in schrecklicher Regelmäßigkeit ereilt hatten, nichts waren gegen die Tiefpunkte, die das Leben außerhalb dieser surrealen Welt bereit halten kann. So oft man sich dies jedoch vor Augen halten mag, so selten tröstet es.

In der aktuellen Saison spielt Hertha BSC erneut eine bislang großartige Saison, sechs Spiele vor dem Ende stehen die Berliner auf dem dritten Rang, der die sichere Qualifikation zur Champions League bedeuten würde. Der Blick in die Vergangenheit beweist, dass viel abhängen kann vom erfolgreichen Abschluss einer starken Saison – über dem Strich. Für einen Verein wie Hertha BSC, insbesondere unter Berücksichtigung der vergangenen Jahre und der zwei mit enormem finanziellen Aufwand korrigierten Abstiege, wäre es mehr als wichtig, die Champions League tatsächlich auch zu erreichen. Allein aus finanzieller Hinsicht.

Auch wenn das Erreichen der Europa League sportlich natürlich fast genauso hoch einzuschätzen wäre, wäre die Teilnahme an der Champions League für den Verein auch psychologisch wichtig. Es wäre nicht nur eine späte Genugtuung dafür, dass der Verein so häufig und denkbar knapp daran vorbeigerutscht ist, obwohl er es in der ein oder anderen Spielzeit durchaus verdient gehabt hätte, die Königsklasse zu erreichen. Es wäre für Hertha BSC auch wichtig, in der entscheidenden Situation einmal die Nerven zu behalten und die Saison letztlich auch ins Ziel zu bringen – und nicht wieder kurz vor dem Ende zu stolpern.

Die heutige Niederlage in Mönchengladbach lässt nun völlig offen, ob eine völlig zu Unrecht unterschätzte Mannschaft, die zudem im DFB-Pokalhalbfinale steht, sich am Ende auch für ihre gezeigten Leistungen belohnen kann. Es wäre ihr zu gönnen. Da bin ich völlig frei von unnötigem Objektivismus. Ich warte also wieder einmal gebannt auf den Mai, wie schon so oft. Das Hoffen hört ja nie auf. Egal, was man schon hinter sich hat.

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