Der Mann, den sie PLATZWART nannten

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platzwart

von Björn Leffler

Es war Winter. Ich muss 13 oder 14 Jahre alt gewesen sein. Es war ein trüber, grauer Dezembermorgen, aber immerhin regnete es kaum. Es war der erste Weihnachtsfeiertag. Das Vereinsgelände des meines Heimatvereins war komplett verlassen. Der Wind pfiff in den hohen Bäumen, die den Kunstrasen vom Naturrasenplatz trennten. Mühelos war ich über den rostigen Maschendrahtzaun am südlichen Waldeingang des Geländes geklettert, um auch am ersten Weihnachtsfeiertag meine tägliche Dosis Fußball zu bekommen.

Natürlich war ich allein, aber das störte mich eigentlich nicht. Mir reichte ein Ball und ein Tor, um einen grandiosen Vormittag zu verleben. Eigentlich hätte ich keine Zeit verloren und wäre sofort auf die verlockende, teppichartige Kunstrasenfläche gestürmt. Aber dann sah ich hinüber zum Naturrasenplatz. Er war völlig leer, so wie immer. Nur für die Pflichtspiele der Männermannschaft wurde der heilige Rasen zugänglich gemacht. Und dann auch ausschließlich für Spieler und Schiedsrichter.

Zu allen anderen Tages- und Nachtzeiten war dieser Platz für Normalsterbliche unter Androhung der Todesstrafe geschlossen. In alle vier Himmelsrichtungen waren die großen, nicht zu übersehenden „BETRETEN VERBOTEN!“-Schilder in die klumpige Erde gespießt worden. Und diese Schilder sah ich auch jetzt, als ich im nasskalten Wind stand und versuchte, der Versuchung zu widerstehen, aus dem heiligen Gral zu kosten, vom Baum der Erkenntnis zu naschen, das Mekka der örtlichen Fußballdynastie zu betreten – einmal auf dem echten Naturrasen zu spielen, es war einfach zu wundervoll, um wahr zu sein.

Aber das unterschwellige Unbehagen, das in mir pulsierte wie eine Dampflok, die langsam Fahrt aufnimmt und stetig schneller wird, ließ sich nicht unterdrücken.

Jeder wusste, dass der Mann, den sie alle nur den „Platzwart“ nannten, mit diktatorischer Härte und Polizeistaatmethoden über den Naturrasen wachte wie über seinen Augapfel. Er war das Herz der gesamten Vereinsanlage. Zu nahezu jeder Tages- und Nachtzeit schien er darüber zu wachen, dass niemand auch nur in die Nähe des hingebungsvoll gepflegten Grüns kam. Schon allein, wenn man auf dem Weg zum Kunstrasen eine kleine Abkürzung über ein fransiges Fleckchen am äußeren Rand wagte, donnerte sofort eine bellende Stimme aus dem Mannschaftsheim: „Runter vom Raaaaasen!!!“

Sein Wort war Gesetz. Niemand wagte es, sich dagegen aufzulehnen. Es gab Vereinspräsidenten, es gab Funktionäre, es gab Trainer. Sicherlich. Aber die letzte Instanz war der Mann, den sie „Platzwart“ nannten.

Für gewöhnlich saß er in seinem kleinen Stübchen in der Nähe des Eingangstores, wenn er nicht auf einem seiner zahlreichen Rundgänge war. Und er war immer da. Geregelte Arbeitszeiten, das Modell der 40-Stunden-Woche, Vergütung nach gesetzlichem Tariflohn – all diese Annehmbarkeiten einer zivilen Gesellschaft zählten nicht für den Mann, den sie „Platzwart“ nannten. Dieser Mann war dafür geboren, ein Leben im Schatten von Aluminiumpfosten, im Staube der Markierungskreide, im Dunst von frisch gemähtem Rasen zu fristen. Vermutlich war er bereits im Trainingsanzug und mit Harke in der Hand zur Welt gekommen.

Respekt war gar kein Ausdruck. Dieser Mann wurde, soweit es einem möglich war, gemieden. Wenn man an ihm vorbeiging, dann höchstens mit gesenktem Blick. Höchstens wagte man es, ehrfurchtsvoll zu grüßen. Aber ganz still und leise nur.

Aber es war der 25. Dezember. Niemand war zu sehen auf dem weitläufigen, zugigen Areal, alle Tore waren verriegelt, und der Platz lag vor mir wie eine nackte Jungfrau, die mich mit forderndem Blicke zu sich ziehen wollte. Auch der Mann, den sie „Platzwart“ nannten, so dachte ich, muss eine Bleibe außerhalb dieses Fußballplatzes haben, oder eine Familie, zu der er am ersten Weihnachtsfeiertag einkehren kann.

Als ich zum Himmel sah, hatte es den Anschein, als öffnete sich die Wolkendecke einen Spalt breit und ein feiner, aber klar erkennbarer Sonnenstrahl fiel direkt auf den Elfmeterpunkt des Rasens. Dies musste ein Zeichen sein, von alleroberster Instanz!

Also tat ich es. Der erste Schritt war ein Schritt in eine neue Welt. Kurz wartete ich noch. Mit einem Fuß war ich bereits über die Torauslinie an der Eckfahne getreten und wartete ab, was passieren würde. Aber es tat sich nichts. Bis auf das Heulen des Windes – Stille. Die Angst wich der Erleichterung. Ich warf den Ball auf den Rasen und stürmte in Richtung Tor. Ein erhebendes Gefühl. Das Wort Ekstase kann nicht ausdrücken, was dieser Moment für mich bedeutete. Ich dachte zurück an die vielen schönen Momente, die mir das Leben bis dahin geschenkt hatte, aber keiner reichte an den Moment heran, als ich zum ersten Mal den Ball in das Tor auf dem heiligen Grün meines Nordberliner Provinzvereins schoss. Ich fühlte, wie die Glückshormone durch meinen Körper sprudelten und drosch den Ball wie von Sinnen in die grünen Maschen.

Ich fühlte den echten Rasen mit den Händen, grätschte den Ball einem imaginären Mitspieler ab, warf und kugelte mich ins Wiesengrün und war mit mir und der Welt im Reinen; Pubertät, schlechte Schulnoten, uninteressierte Mädchen – alle Problemfelder meines Daseins waren in diesem Moment wie ausgelöscht. Ich war hier, auf dem schönsten Flecken Erde, den ich mir bis dato hätte ausmalen können.

Es waren die schönsten zweieinhalb Minuten meines bisherigen Lebens.

Dann passierte es. Einen vom Tor zurückrollenden Ball erwischte ich ideal mit dem linken Fuß, der Ball beschrieb eine wundervolle Flugkurve und krachte scheppernd an den linken Pfosten. Ich war schon auf dem Weg, den Ball erneut aufs Tor zu schießen. Doch dann sah ich ihn.

Der Pfostenschuss hatte ihn offenbar aufgeweckt. Mit den Armen in den Hüften stand der Mann, den sie immer nur den „Platzwart“ nannten, vor der geöffneten Tür seines Kabuffs und starrte stoisch auf die Szene, die sich vor seinen Augen abspielte – die Entweihung der heiligen Stätte durch einen törichten Jungspund. Ich stand wie angewurzelt. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Rund hundert Meter trennten mich von ihm und ich wusste nicht, wie ich die Situation lösen sollte. Auch er rührte sich keinen Meter, aber die dunkle Miene, der Wind, der durch die Ballonseide seines drohenden, rot-weißen Trainingsanzugs wehte, die zu Fäusten geballten Hände – all das war selbst über die Entfernung deutlich erkennbar.

Etwas Laub flog an mir vorbei. Plötzlich zitterte ich. Wie ein Film liefen vor meinem inneren Auge die großen Duelle der Menschheitsgeschichte ab – David gegen Goliath, Herkules gegen die Götter, Käpt’n Ahab gegen Moby Dick, Luke Skywalker gegen Darth Vader. In diesem Moment stellte ich mir vor, was er mit mir anstellen würde. Wusste überhaupt jemand, was er dort vorn in seinem Kämmerlein beherbergte? Gab es nicht vielleicht eine geheime Tür zu einer gigantischen, monströsen Folteranlage? Hatte er nicht im linken Hosenbein seines Trainingsanzuges diesen brutal spitzen Schlüsselbund versteckt? War er womöglich passionierter Kettensägen- Sammler?

Alles schien mir möglich, und während ich meine letzten Momente schon gekommen sah, fiel mir wieder „Forrest Gump“ ein. Jedes Mal, wenn Forrest von der böswilligen Dorfjugend angegriffen und verfolgt wurde, rief seine Freundin Jenny: „Run, Forrest, Run!“

Und ich rannte. Wie von Sinnen flüchtete ich mich in Richtung Wald. Meinen Ball ließ ich liegen, nichts hielt mich mehr. Noch hatte ich einen Vorsprung. Wenn ich es schaffen konnte, den Zaun schnell zu überwinden, ohne an den rostigen Zacken hängen zu bleiben, hatte ich ein realistische Chance. Ich sah mich nicht mehr um. Ich wollte leben. Ich hatte das Gefühl, seinen heißen Atem bereits in meinem Nacken zu spüren.

Das Adrenalin, das in meine Adern schoss, setzte ungeahnte Kräfte frei und jegliches Schmerzgefühl außer Kraft. Ich schaffte den Zaun innerhalb einer gefühlten halben Sekunde, sprang in den morastigen Boden des kleinen Wäldchens, stolperte, raffte mich auf – und rannte, rannte, rannte.

Wie hatte ich nur glauben können, dass es für ihn ein Leben außerhalb dieses Platzes geben könnte. Wie hatte ich so töricht sein können, zu glauben, Gott würde über ihm stehen. Über dem Mann, den sie alle nur den „Platzwart“ nannten. Nie wieder würde ich göttliche Zeichen über die Autorität des Mannes im blutroten Trainingsanzuges stellen. Ich hatte meine Lektion gelernt. Noch immer lief ich, rastlos, bald atemlos. Als ich weit genug entfernt und den großen Hügel hinter dem Platz hinuntergelaufen war, in sicherem Abstand, hielt ich an und sah mich um. Ich hatte es geschafft. Ich atmete durch und brach erleichtert zusammen. Ich keuchte und schloss die Augen.

Eines Tages jedoch, so schwor ich mir, werde ich auf diesem Platz spielen. Als Spieler in der Männermannschaft meines Vereins. Als Kapitän.

Endlich hatte mein Leben einen Sinn, ein Ziel. Die Richtung, nach der ich so lang gesucht hatte, nun kannte ich sie. Und in diesem Moment fühlte ich sogar so etwas wie Dankbarkeit. Dankbarkeit dafür, dass er mich verschont hatte. Dankbarkeit dafür, dass er mir den Weg gewiesen hatte.

Danke, Mann den sie „Platzwart“ nannten!

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