Traversenpoesie für den großen Moment – „You´ll never walk alone“

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Freisprecheinlagen sind was Feines. Sie ermöglichen uns sicher durch den Straßenverkehr zu manövrieren und gleichzeitig mit Freunden und Bekannten Erinnerungen und Momente zu teilen und nicht zuletzt neue Projekte zu initiieren. Das Beste daran ist aber, dass alle Insassen des Vehikels daran teilhaben, mithören und sich einmischen können. Manchmal entsteht daraus etwas Magisches – wie zum Beispiel der Dokumentarfilm „You´ll never walk alone“ von André Schäfer, der gestern im Rahmen des 11mm-Fußballfilmfestivals seine Premiere feierte.

Joachim Król – einer aus dem ausgelesenen Kreis der Charakterköpfe des deutschen Schauspiels – saß vor vor gut zwei Jahren auf dem Rücksitz eines Wagens, in dem André Schäfer mit einem Kollegen per Telefon über die Idee zu einem neuen Projekt sprach. Es ging um die Recherche der Hintergründe der Hymne „You´ll never walk alone“, welche spätestens durch die massenmediale Überversorgung zu einem festen Bestandteil der Fußballkultur in großen Teilen der Welt geworden ist. Doch wo fing alles an? Warum überhaupt? Wer hats erfunden? … Liverpool klar. Aber wie kamen die Fans von Liverpool zu dieser einizigartigen Hymne, die so viele Menschen emotional mitreißt und dieses segensreiche Gefühl der Kollektivität kreiert? Joachim Krol, in Herne aufgewachsener BVB-Anhänger, war sofort gepackt von dieser Idee – immerhin steht er regelmäßig im Westfalenstadion und singt eifrig mit. Er wollte im Verbund mit André Schäfer und seinem Produktionsteam die Hintergründe herausfinden und begab sich auf eine Reise durch die europäische Kulturgeschichte, die in exzellenter Manier filmisch dokumentiert wurde.

Detailliert recherchiert eröffnet der Film einen ungemein wertvollen Blick auf die Ursprünge, Entwicklungen und Wirkungen dieser einzigartigen Fußballhymne. Angefangen beim ungarischen Dramatiker Ferenc Molnars, dessen Theaterstück „Liliom“ am 07. Dezember 1909 in Budapest uraufgeführt wurde und schon bald in Wien erfolgreich wurde. Es ist die Geschichte eines Rekommandeurs eines Karussels im Budapester Stadtwäldchen respektive des Wiener Praters, der als Hallodri Frauen unterschiedlicher Klassen und Herkünfte den Kopf verdreht und für ein Drama üblich so manchen Konflikt heraufbeschwört – und dies alles in einer politischen Zeit des Umbruchs und des gesellschaftlichen Wandels. Eine kleine Geschichte in großen Zeiten – der Stoff aus dem die Träume sind. So ist es auch kein Wunder, dass das Drama schon bald in so manchem europäischen Theater gespielt wurde und Mitte der 1940er Jahre (gezwungenermaßen aufgrund der Flucht ins Exil so mancher kulturellen Größe) den Sprung über den großen Teich nach New York schaffte. Am dortigen Broadway wurde das Theaterstück transformiert in das Musical „Carousel“, welches zum musikalischen Ausgangspunkt der Hymne „You´ll never walk alone“ werden sollte. Die Dichtung Ferenc Molnars wurde durch die Musik Hammerstein und Rodgers auf eine neue Ebene gehoben.

Das Musical wurde zum Straßenfeger und so dauerte es nicht lange, dass daraus sogleich dem Zeitgeist entsprechend auch ein Film gemacht wurde, der dann Gerry Marsden, Frontsinger der legendären Band Gerry and the Pacemakers, die entscheidende Inspiration verlieh. Er griff die Ballade „Walk alone“ aus dem Stück auf, coverte sie und konfrontierte entgegen dem Anraten seiner Produzenten seine Rockmusik-Erprobten Fans damit. Diese waren hellauf begeistert und hievten den Song direkt auf Platz 1 der englischen Charts. Die glückliche Fügung wollte es, dass genau in jener Zeit zu Beginn der 1960er Jahre die technischen Bedingungen die Übertragung der englischen Charts über die Lautsprecher ermöglichten. Die Stadionmusik war geboren, welche durch die Supporter zum freudigen Mitsingen aufgegriffen wurden. Einer dieser Songs der damaligen Top10 verschwand nicht mehr von den Traversen, unabhängig von seiner Chart-Position…

André Schäfers Dokumentation ist ein Film voller Kulturgeschichte, der durch die Perspektive der Gegenwart diese natürlich auch nicht zu kurz kommen lässt. So wird die gegenwärtige Bedeutung des Songs für die Liverpooler Club- und Stadtgeschichte genauso analysiert wie die Adaption der Hymne im Dortmunder Westfalenstadion. Positive und negative Schlaglichter der jeweiligen Vereinsgeschichte werden herangeführt als Beweis für die Einmaligkeit dieser Hymne der Vergemeinschaftung. Die Katastrophe von Hillsborough, der letzlich gewonnene Rechtsstreit mit dem englischen Boulevardblatt The Sun sowie sportliche Momente wie das Champions-League-Finale der Reds gegen den AC Mailand, als sie zur Halbzeit 0:3 zurücklagen und durch die Kraft des Songs, welcher von tausenden Kehlen während des Pausentees von den Tribünen schallte, wieder aufgemuntert wurden oder das Wahnsinns-Comeback im Viertelfinale des UEFA-Cups 2016 gegen Borussia Dortmund. All dies wird unterlegt mit einer Hymne der Stärke, des kontinuierlichen Weitermachens und der kollektiven Erfahrung.

Es war darüber hinaus ein Spiel, bei dem zwei Fangruppierungen aufeinandertrafen, die die für sich Hymne in Anspruch nehmen als Teil der eigenen Fankultur. Dies führte sowohl im Hin- als auch im Rückspiel zu fast schon magischen Szenen der internationalen Verbrüderung – eine Leistung, zu der neben der Musik kaum eine andere Kulturform im Stande ist. Und doch erkannte das geübte Ohr recht schnell die Unterschiede in den jeweiligen Versionen in Liverpool und Dortmund. Spötter könnten meinen, dass allein durch die weichgewaschene deutsche Version der BVB damals vollkommen zu Recht ausgeschieden sei. Angesichts des musikalischen Offenbarungseides, den Pur Hamony Ende der 1990er Jahre geleistet hat, um der Dortmunder Borussia zu einer Stadionhymne zu verhelfen, ist die kämpferische trotzende Attitüde der Gesangseinlage der Liverpool-Anhänger einfach nur beeindruckend, während in Dortmund höchstens bierselige Nostalgie sich breit macht. Pur Harmony überarbeitete die Hymne damals in schlimmster Schlagermusik-Soft-Rock-Manier und versetzte die sanften und gleichzeitig entschlossenen Klänge mit Bässen und zackigeren Rhytmen. Einem jeden Liverpooler Ohr musste dies beim erstmaligen Erleben im Westfalenstadion wie eine Beleidigung vorkommen. Im Rückspiel stellten die Reds dann unmissverständlich klar, wie das Original klingt und wo es seine Ursprünge hat und demonstrierten die magische Kraft, die diese Hymne an der Anfield Road entfaltet. Die Hymne brachte die Wende des Spiels. Der BVB fuhr mit leeren Händen und einem komischen Gefühl nach hause, das die Liverpooler ihnen als Abschiedsgeschenk bereiteten – ein Ohrwurm für eine noch immer schmerzende Niederlage.

Fazit: Der Film „You´ll never walk alone“ ist unbedingt empfehlenswert. Er begibt sich auf die Suche nach Spuren einer Magie des unbeschreiblichen Augenblicks und bietet dank tiefgreifenden Recherchen wunderbare Einblicke in die Geschichte der Musik, des Sports und der Kultur des 20. Jahrhunderts. André Schäfers Werk gehört zum Pflichtprogramm für Nostalgiker, Wissenschaftler und Fußballverliebte!

Axel Diehlmann
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